Michael Gaismair heute: Ein Gespräch mit Josef Prackwieser

Von Martin Hanni

Anmerkung: Dieses Interview erschien am 09. Februar auf dem Südtiroler Online-Portal SALTO und darf hier mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht werden.

Josef Prackwieser ist der neue Vorsitzende der Michael-Gaismair-Gesellschaft, die es seit 40 Jahren zu dem vor 500 Jahren verstorbenen Helden gibt.

SALTO: Die Gaismair-Gesellschaft, Jahrgang 1985, ist zwei Jahre älter als Sie. Wann haben Sie zum ersten Mal etwas von ihr erfahren. Und in welchem Zusammenhang?

Josef Prackwieser: Die Gaismair-Gesellschaft wurde in einem spannenden Jahrzehnt gegründet, als die neue, noch junge Südtiroler Geschichtsschreibung mit ersten Aktivitäten in Erscheinung trat. Man machte sich daran, die komplexe Südtiroler Vergangenheit zum ersten Mal sprachgruppenübergreifend aufzuarbeiten und die widerstreitenden ethnischen Narrative – “Verteidigungs- und Eroberungsmythos”, wie es Hans Karl Peterlini einmal genannt hat – zu versöhnen. Früchte dieser Aufbruchsbewegung waren etwa die große Optionsausstellung von 1989 “Option Heimat Opzioni” – getragen vom Tiroler Geschichtsverein – oder die Gründung des Vereins “Geschichte und Region/Storia e regione” im Jahr 1992, die sich einer kritischen Regionalgeschichte verschrieben hatte. Viele der Protagonistinnen und Protagonisten jener Zeit finden sich auch in der Michael- Gaismair-Gesellschaft wieder. Der Name der Gesellschaft wurde freilich aus programmatischen Gründen gewählt: Ein Jahr nach dem Andreas-Hofer-Gedenkjahr von 1984 erkor man Michael Gaismair zur interessanteren Figur der Tiroler Geschichte – in den 1980ern keine kleine Provokation! Zum ersten Mal habe ich von der Gesellschaft wohl um 2008 oder 2009 gehört. Passenderweise war dies während meines Geschichtsstudiums in Freiburg im Breisgau, als ich bei einer Recherche zum “Bauernführer” Gaismair auf die Publikationen der Gesellschaft stieß. Ich kann mich noch erinnern, wie mich die Mischung aus historischer Forschung zur Tiroler Frühen Neuzeit und ihre “sozialdemokratische” Lesart faszinierten. Mir begegnete hier auch ein “anderes Tirol”, d.h. konsequent die alten Grenzen mitdenkend, aber nicht in der Vergangenheit steckengeblieben.

SALTO: Sie übernehmen nun von Günther Pallaver den Vorsitz der Michael Gaismair-Gesellschaft. Wird es in Zukunft weniger politisch und mehr historisch zugehen? Oder weiterhin beides?

Prackwieser: Die Michael-Gaismair-Gesellschaft hat mit dem Politikwissenschaftler und Historiker Günther Pallaver beide Bereiche aufs Schönste auf sich vereint. Meine Interessen liegen wohl mehr in der Geschichte, ich schätze aber die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen. In den Satzungen steht, dass sich die Gesellschaft mit “grenz- und sprachgruppenübergreifende Themen im Alpenraum” in “historischer, politischer, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht” beschäftigt. Und wie könnte man dies besser erreichen als durch Interdisziplinarität? Viele der Mitglieder in der Gesellschaft sind Geschichtler, wir haben aber auch Politologinnen, Menschen aus der Rechtswissenschaft, Naturwissenschaftler und den Gewerkschaften.

SALTO: Was hat uns Gaismair 500 Jahre später überhaupt noch zu sagen? Was seine Gesellschaft?

Prackwieser: Die historische Figur Michael Gaismair hat oberflächlich besehen alle Ingredienzien für eine Heldenfigur à la Hollywood: Ein Aufständischer aus gutem Hause, der sich der Entrechteten annahm und den Märtyrertod durch Habsburgerhand fand. Freilich kann er nur aus seiner Zeit heraus verstanden werden, die uns aus der Perspektive der historischen Anthropologie wie ein fremdes Land erscheinen muss: Wie agierte Gaismair in der damaligen Ständegesellschaft, die von (radikaler) Reformation und dem Übergang von Mittelalter zur Neuzeit bestimmt war? Waren seine biblisch grundierten Vorstellungen von “Freiheit”, “Gerechtigkeit” und “Demokratie” wirklich so ähnlich zu unserer Zeit, die von Aufklärung, französischer Revolution und einer gewissen Wissenschaftlichkeit geprägt ist? Die Bauernaufstände von 1525 – in Tirol und im süddeutschen Raum – sind nämlich seit dem späten 18. Jahrhundert bis in unsere jüngste Zeit politisch und geschichtsphilosophisch enorm aufgeladen. Der Bozner Historiker Philipp Tolloi hat zu dieser Rezeptionsgeschichte übrigens spannende Forschungen vorgelegt: Friedrich Engels erklärte Gaismair zum revolutionären Vorkämpfer der Freiheit der Bauern und Arbeiter, der Schriftsteller Josef Wenter, der während der NS-Zeit sehr erfolgreich war, versuchte aus dem Tschöfser eine völkische Heldenfigur zu machen, wie überhaupt der Nationalsozialismus aus Gaismair eine antisemitische, antiklerikale Galionsfigur zu konstruieren versucht hat. Vielleicht lehren uns diese so unterschiedlichen Sehepunkte auf Gaismair einiges über unseren eigenen Umgang mit Geschichte. Die Beschäftigung mit Gaismair selbst und seinem Programm bleibt freilich lohnenswert und wir können viel über soziale Ungleichheit und Machtmissbrauch lernen.

SALTO: Im Mai wird es eine Tagung zum Thema „Gerechtigkeit“ abgehalten. Was können Sie verraten?

Prackwieser: Gaismair ist an die Spitze des Bauernaufstandes von 1525 mit der Forderung nach Gerechtigkeit angetreten – verstanden aus seiner Zeit natürlich. Mit der Bibel in der Hand hat er die Prinzipien der Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit vertreten. Die Tagung vom 7.-9. Mai in der Geburtsstadt Gaismairs, in Sterzing, wird sich mit dieser Frage aus historischer und aktueller gesellschaftspolitischer Sicht beschäftigen. Im historischen Teil werden namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Südtirol, Italien, Österreich, Deutschland und Tschechien anwesend sein. Tschechien deshalb, weil der eigentliche Wieder-Entdecker Gaismairs Josef Macek (1922-1991) aus der damaligen Tschechoslowakischen Republik war. Zur aktuellen Debatte über Gerechtigkeit gibt es neben einem Impulsreferat über “Künstliche Intelligenz und die Frage nach Gerechtigkeit” vier Workshops, vor allem für Oberschülerinnen und Oberschüler, zu: Umweltgerechtigkeit – Tierethik, Gleichheit und Differenz – Was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit?, Soziale Gerechtigkeit – bedingungsloses Grundeinkommen sowie Gerechtigkeit und Gemeinwohlökonomie.

SALTO: Im Juni wird unter der Trägerschaft der Gaismair-Gesellschaft, in Sexten der Claus Gatterer Preis für herausragenden Journalismus verliehen. Unter welchem herausragenden Stern könnte ein möglicher Gaismair-Preis ihrer Meinung nach stehen?

Prackwieser: Ich glaube, wir sind derzeit mit dem Gatterer Preis bestens ausgestattet, den wir zusammen mit dem Presseclub Concordia in Wien vergeben, immer im Juni in der Heimatgemeinde Gatterers in Sexten. Ein neuer Gaismair Preis ist derzeit nicht vorgesehen. Aber man soll ja nie etwas ausschließen.

SALTO: Im Herbst gibt es unter dem Titel „Konstruktive Revolution? Michael Gaismair und Alexander Langer als Ideengeber für gesellschaftliche Veränderungsprozesse” eine Tagung in jener Stadt, die beiden Helden sehr bekannt war. Was verbindet sie außerdem?

Prackwieser: 2025 ist nicht nur Gaismair-Jahr, sondern auch der dreißigste Todestag von Alexander Langer. Beide Personen trennen etwa 500 Jahre voneinander, beide sind Sterzinger und beide haben sich auf ihre eigene Weise sehr radikal mit ihrer Gegenwart und dem, was sie darin störte, beschäftigt: Die Art des Zusammenlebens, strukturelle Ungerechtigkeiten, das Unsolidarische in Wirtschaft und Politik. Ich finde es interessant, dass Sie auch Langer als “Held” bezeichnen (der Begriff hat in unserem Tiroler Kontext nochmal eine ganze eigene Bedeutung): Er war er es doch, der einmal Michael Gaismair als den interessanteren “Helden” Tirols bezeichnete, eben weil Gaismair nicht zu einer “alten Ordnung” zurückkehren wollte wie Hofer. Die Tagung am 10. Oktober 2025 geht auf eine Idee von Katharina Crepaz zurück und wird zusammen mit Christine Stufferin und Giorgio Mezzalira von der Alexander Langer Stiftung und von Karin Hochrainer von der Stadtbibliothek Sterzing organisiert. Den diachronen Vergleich wagen wir neben Vorträgen unter anderem während eines Stadtrundgangs durch das Sterzing Gaismairs und Langers.

SALTO: Gaismair, Gatterer, Langer… wo bleiben die Frauen?

Prackwieser: Eine berechtigte Frage! In den beiden genannten Konferenzen unserer Gesellschaft haben wir größere Sektionen zu Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der Frauengeschichte oder weiblichen Care-Arbeit im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit eingeplant. Was nun die allgemeine Situation anbelangt, würde ich schon sagen, dass die Präsenz von Frauen in der Südtiroler Gedenk- und Erinnerungskultur noch ausbaufähig ist, wenn man etwa an die großen Landesjubiläen denkt. Wie selbstverständlich die Rolle von Frauen in der Geschichte mitgedacht werden sollte, zeigt sich auch am Beispiel der genannten Herren: Gaismairs Ehefrau Magdalena Ganner kümmerte sich nach dem Meuchelmord an ihrem Mann weiter um ihre vier Söhne, verkaufte das Haus im venezianischen Exil und zog mit ihrer Familie in die Schweiz. Oder die Mutter von Alexander Langer, Elisabeth Kofler Langer, die die erste Gemeinderätin Sterzings – sowie die erste promovierte Chemikerin Italiens – war und ihre Kinder im Sinne einer verantwortungsvollen Weitherzigkeit erzog. Die historische Forschung zu solchen Fragen der Diversität findet auf jeden Fall statt, ich denke an die Arbeiten von Siglinde Clementi oder an das Frauenarchiv Bozen.

SALTO: Eine kecke Frage am Ende. Nach 40 Jahren an der Spitze der Michael Gaismair-Gesellschaft ist Günther Pallaver abgetreten. Sie wollen auch so lange bleiben?

Prackwieser: Günther Pallaver war genau 30 Jahre alt, als er die Michael-Gesellschaft mitgegründet hat und zu ihrem Präsidenten wurde. Ich bin jetzt sieben Jahre älter als er es war, allein aus diesem Grund kann ich diese “historische” Zeitspanne kaum ausfüllen, denn dann wäre ich 77! Außerdem haben wir zahlreiche tolle Köpfe als Mitglieder, die noch viel jünger sind als ich. Ich könnte mir in Zukunft auch gut eine Doppelspitze vorstellen, die die historischen, aber auch gesellschaftspolitischen Schwerpunkte der Gesellschaft nach außen hin repräsentieren.